02/07/2024 0 Kommentare
Singt dem Herren ein neues Lied (Psalm 98)
Singt dem Herren ein neues Lied (Psalm 98)
# Gottesdienste/Spirituelle Angebote

Singt dem Herren ein neues Lied (Psalm 98)
Liebe Gemeinde,
bald ist es ein Jahr her, dass wir nach dem ersten Lockdown endlich wieder Gottesdienste feiern durften. Am 10. Mai 2020 hatten wir eigentlich Konfirmation feiern wollen. Doch stattdessen fand an dem Tag der erste Gottesdienst unter Coronabedingungen statt. Ein paar Tage vorher hatten wir die Bänke ausgemessen, Platzschilder befestigt und Markierungen auf den Boden geklebt. Und als dann der Sonntagmorgen kam, war ich ganz gespannt, ob wohl irgendjemand kommen würde - und wenn ja, wie viele? Gründe, Zuhause zu bleiben, gab es schließlich mehrere. Die mögliche Ansteckungsgefahr, die hier in der Kirche zwar nicht unbedingt hoch, aber doch höher ist als allein Zuhause zu sein. Und dazu noch die veränderte Form des Gottesdienstes: Kein liturgischer Wechselgesang, kein Singen lieb gewonnener Lieder.
Trotzdem standen Christian Faerber, Martin Hallmen, der Lektor Lothar Wolnik und ich am 10. Mai 2020 glücklicherweise nicht allein da und waren es auch bisher nicht. Immer, wenn wir zum Gottesdienst eingeladen haben, gab es Leute, die gern kamen. Vieles war in diesem Jahr ja auch weiterhin möglich: Interessante Predigten, berührende Gebete und wunderschöne Orgelmusik. Doch trotzdem merken viele, wie sehr das Singen einfach fehlt. Das spüre ich selbst und werde darauf auch immer wieder angesprochen. Mit der eigenen Stimme und dem Körper in den Gesang einzustimmen, das ist einfach ein besonderes Gefühl, das sich durch das Lauschen der Musik nicht ersetzen lässt.
Singen bringt Geist und Körper in Bewegung. Singen lässt die Gedanken einen Liedes tief in die eigene Seele dringen, Singen hat Bekenntnischarakter, Singen ist, so sagt man doppeltes Beten.
Wann ist es endlich so weit, wann werden wir wieder gemeinsam singen? Das ist leider noch unklar. Ebenso wie die Folgen, die die Corona-Krise auf unsere Kirche haben wird.
Wird die Chorarbeit wieder aufblühen? Oder haben die Menschen mittlerweile andere Interessen? Welche Rolle wird unser Gemeindeleben für Menschen verschiedener Generationen haben, nachdem so lange Zeit vieles nur digital stattfinden konnte?
Wer behält seine Bindung zur Kirche und wer hat sie über diese Zeit hinweg verloren?
Mit diesen recht trüben Gedanken im Kopf lese ich den Predigttext für den heutigen Gottesdienst, der in das Geschehen vor Ostern und Karfreitag zurückspringt. Jesus steht vor dem Beginn der Geschehnisse in Jerusalem, reitet in die Stadt hinein und dem weiteren Verlauf seines Schicksals entgegen:
Jesus zog er weiter, hinauf nach Jerusalem. In der Nähe der Ortschaften Betfage und Betanien am Ölberg schickte er zwei seiner Jünger fort mit dem Auftrag: »Geht in das Dorf da drüben! Am Ortseingang werdet ihr einen jungen Esel angebunden finden, auf dem noch nie ein Mensch geritten ist. Bindet ihn los und bringt ihn her! Und wenn euch jemand fragt: ›Warum bindet ihr den Esel los?‹, dann antwortet: ›Der Herr braucht ihn.‹« Die beiden gingen hin und fanden alles so, wie Jesus es ihnen gesagt hatte. Als sie den Esel losbanden, fragten die Besitzer: »Warum bindet ihr den Esel los?« »Der Herr braucht ihn«, antworteten sie und brachten ihn zu Jesus. Sie legten ihre Kleider über das Tier und ließen Jesus aufsteigen. Während er einherritt, breiteten die anderen Jünger ihre Kleider als Teppich auf die Straße. Als Jesus dann an die Stelle kam, wo der Weg den Ölberg hinunterführt nach Jerusalem, brach die ganze Menge der Jünger, die Männer und Frauen, in lauten Jubel aus. Sie priesen Gott für all die Wunder, die sie miterlebt hatten. Sie riefen: »Heil dem König, der im Auftrag des Herrn kommt! Gott hat Frieden bereitet im Himmel! Ihm in der Höhe gehört alle Ehre!« Ein paar Pharisäer riefen aus der Menge: »Lehrer, bring doch deine Jünger zur Vernunft!« Jesus antwortete: »Ich sage euch, wenn sie schweigen, dann werden die Steine schreien!« (Lukas 19,37-40)
Steine, die schreien. Steine, die der Welt und den Menschen etwas erzählen. Dieses Motiv gibt es schon bei Cicero. In einem seiner Werke schreibt er, dass bei seiner Rückkehr aus der Verbannung im Jahr 57 v. Chr. selbst die Mauern, Gebäude und Tempel ihre Freude ausgesprochen hätten.
Jesus greift diesen Gedanken auf und macht damit den Pharisäern deutlich:
Es macht keinen Sinn, die Jünger zur Ruhe aufzufordern. Der Jubelruf ist in der Welt und kann von den Gegnern nicht zum Schweigen gebracht werden.
Es kann nicht geheim gehalten oder unterdrückt werden, dass hier ein Friedenskönig einzieht. Würde es versucht werden, geschähe Unmögliches: Steine würden schreien.
Unmöglich? Ist es das? Oder gibt es das nicht in gewisser Weise schon? Ich erinnere mich, wie beeindruckend der Besuch des Holocaustmahnmals in Berlin für mich vor Jahren gewesen ist. Diese immer größer werdenden Steinklötze zu sehen und durch sie hindurch zu gehen, das hatte eine beeindruckende und auch bedrückende Wirkung auf mich. Das Fruchtbare, das in der NS-Zeit passiert ist, das berührte mich dort mitten unter diesen Steinen in besonderer Weise. Ich spürte eine Beklemmung, ich spürte einen Anflug des Grauens, von dem die Steine erzählen wollten.
Natürlich kann so ein Mahnmal die menschlichen Worte nicht ersetzen. Das zeigen etwa die Bilder derer, die sich auf den Klötzen sonnen oder dort fröhlich Verstecken spielen. Wir bleiben auf unsere Worte angewiesen, um Schreckliches und Schönes mitzuteilen. Doch Steine und viele andere Elemente dieser Welt können uns in dem, was wir mitteilen wollen, unterstützen. Das gilt auch für die Stolpersteine, die in viele Fußwege in Findorff eingesetzt sind. Auch dann, wenn ich nicht stehen bleibe, spüre ich trotzdem den kurzen Schreck über das traurige Schicksal derer, die früher hier gewohnt haben.
Also ja, Steine können schreien: Vor Trauer und Empörung, doch auch, so sagt Jesus, vor Freude. Und das gilt nicht nur für sie, das gilt auch für andere Elemente dieser Welt.
So ruft zum Beispiel der Psalm für diesen Sonntag nicht nur die Menschen zum Lob auf, sondern auch die Natur:
„Jauchzet dem Herrn, alle Welt,
singet, rühmet und lobet!
Lobet den Herrn mit Harfen,
mit Harfen und mit Saitenspiel!
Mit Trompeten und Posaunen,
jauchzet vor dem Herrn, dem König!
Das Meer brause und was darinnen ist,
der Erdkreis und die darauf wohnen.
Die Ströme sollen frohlocken,
und alle Berge seien fröhlich vor dem Herrn;
denn er kommt, das Erdreich zu richten.“
Ich persönlich empfinde solche Worte als große Entlastung. Denn sie sagen mir: Die Hoffnung und die Freude des Glaubens in die Welt zu bringen, das hängt nicht alles nur an uns – an dem, was wir als Kirche machen oder anbieten. Es hängt nicht nur an unseren Worten und Liedern. Natürlich sind sie wichtig und bleiben es auch – doch die Welt arbeitet mit uns. Die christliche Botschaft und das Lob Gottes können auf vielfältige Weise durch die ganze Schöpfung wirken. Und sei es durch leblose Steine.
Es bleibt unsere Aufgabe, uns als Kirche für Gott und für die Menschen einzusetzen. Unseren Glauben zu leben und zu verkündigen durch Taten und Worte und durch die Musik. Doch die Welt arbeitet mit uns. Wenn wir nicht mehr können oder dürfen, dann singt und predigt die Schöpfung.
Pastorin Carolin Joppig
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