02/07/2024 0 Kommentare
Die Passionsgeschichte
Die Passionsgeschichte
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Die Passionsgeschichte
Lektorin Margret Seifert liest die Passionsgeschichte aus dem Lukasevangelium, Kapitel 23, Verse 32 bis 56. Unterhalb des Videos lesen Sie die Predigt für Karfreitag von Pastorin Carolin Joppig.
„Was wisst ihr denn eigentlich schon davon?“ Das ist der Name eines sehr berührenden Kurzfilms, der verschiedene Begegnungen aus dem Alltag zeigt. In der ersten Szene sieht man eine füllige Frau, die mit einem Jungen an ihrer Seite in einem Fast-Food-Restaurant einen Burger isst. Im Hintergrund sitzen Jugendliche und werfen der Frau belustigte und verächtliche Blicke zu. Untermalt werden diese Bilder von einer Stimme, die spricht: „Was wisst ihr denn eigentlich schon davon - wenn ihr die dicke Frau in den Burger beißen seht und ihr verschämtes Gesicht und ihr dabei 'Kein Wunder' “ denkt. Was wisst ihr denn davon? Dass sie schon 20 Pfund leichter ist als letztes Jahr und einfach nicht 'Nein' sagen wollte zu Tim, ihrem Lieblingsneffen, bei dem es Zuhause sonst nur Dinkelbrot gibt? 'Ach, Tante Lisa, einmal im Jahr, bitte.' Und es kommt ihr fast hoch, aber was soll sie dem Jungen über Punkte und Kilojoule erzählen? Und es ist gar nicht so leicht, Lieblingstante zu bleiben wo schon Klettern ja nicht geht und Lisa kaut angewidert und versucht, nur einen zufriedenen Tim zu sehen und nicht euch, weil sie weiß, dass ihr 'Kein Wunder' denkt und sie 'Was wisst ihr schon?'. Und dann denkt sie doch an das Samstagswiegen und geht aufs Klo 'Weg mit dem Burger' und es schmeckt salzig, weil sie Tränen runterschluckt – aber was wisst ihr denn schon davon?“
In einer anderen Szene sieht man einen älteren Mann auf der Parkbank sitzen und die Stimme erzählt: „'Was wisst ihr denn schon davon?', denkt Gerhard, wenn die jungen Mütter wieder ihre Kinder zu sich rufen, weil er ihnen unheimlich ist, der alte Mann, der immer auf dem Spielplatz rumhängt. 63 Jahre und nichts Besseres zu tun als Kinder zu beobachten. Da stimmt doch was nicht. Hier stimmt was nicht - weiß Gerhard als er dem kleinen Mädchen etwas schenken will, aber nicht kann, weil er das Ansprechen verlernt hat seit dem Unfall und nicht weiß, was er ihr sagen soll und weil die Kleine Angst hat vor ihm. 20 Jahre seit sie ausgelöscht sind, seine Große und seine Kleine, die hatte auch blonde Zöpfe und er sieht die Kinder doch einfach gern spielen und leben. 'Was wisst ihr schon davon?', denkt Gerhard in Richtung der tuschelnden Mütter, die ihre Kinder nicht mehr allein zu Spielplatz schicken.'Ich pass doch bloß auf. Aber was wisst ihr denn schon davon.'“ (Das Video können Sie sich über diesen Link bei YouTube anschauen.)
Zwei Ausschnitte aus dem Film sind das. Zwei Beispiele von vielen, in denen Menschen, die es schwer haben, auf Unverständnis, Misstrauen, Spott und Verachtung treffen. Leider ist es Alltag in der Welt, dass Menschen spüren, wie zu ihrem persönlichen, inneren Leid die Verachtung von außen dazu kommt. Dass sie mit ihrem Aussehen, ihrem Verhalten auffallen, das stört manche Leute und veranlasst sie, eigene Theorien zu entwickeln, warum der andere so ist wie er ist. Urteile werden gefällt und nicht mehr hinterfragt.
„Was wisst ihr denn eigentlich schon davon?“ Das hätte auch der Prophet Jesaja sagen können. Denn auch er hat einen Menschen vor Augen, der auf viel Verachtung trifft - weil es ihm nicht gut geht und weil die Menschen denken, die Gründe dafür zu kennen.
Über diesen nicht näher bekannten Menschen sagt Jesaja in seinem Gottesknechtslied: „Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jesaja 53,3-5)
Jesaja erzählt von einem Menschen, in dessen Gesicht und Körper die Spuren seines harten Lebens deutlich zu erkennen sind. Gezeichnet durch Krankheit und Schmerzen bietet er einen Anblick, der nur schwer zu ertragen ist. Und so schauen viele Menschen lieber weg. Tun so, als gäbe es ihn nicht. Lassen ihn in seinem Schmerz allein. Um ihr Verhalten zu rechtfertigen, suchen sie die Schuld beim Kranken. „Wem es so dreckig geht, der ist doch selber schuld! Gott lässt so etwas bei einem guten Menschen nicht zu. Irgendwas wird er ausgefressen haben und jetzt wird er bestraft. Da muss er jetzt durch“, denken die Leute.
Doch Jesaja sagt: Was wisst ihr denn eigentlich schon davon? Dieser Mensch hat sich nichts zu Schulden kommen lassen. Seine Schmerzen sind keine Strafe für irgendein Vergehen. Sie sind vielmehr dazu gedacht, euch einen Spiegel vorzuhalten. Dieser Mensch ist ein Mahnmal für euch. Er hält euch eure eigenen Fehler und eure Schuld vor Augen. Und vielleicht hättet ihr das erkannt, wenn ihr nicht so vorschnell gewesen wärt, so sicher in eurer Verachtung.
Das Leid anderer Menschen als eine Spiegelung der eigenen Schuld zu sehen, dazu fordern manche Bibelstellen auf. Ein unbequemer Gedanke ist das, doch gleichzeitig öffnet er die Augen für ganz neue Erkenntnisse. Das Bild vom Mann am Kreuz – es zeigt, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind. Es zeigt die Bereitschaft der Menschen, zu quälen und zu töten.
Das Bild von der fülligen Frau mit den Tränen im Gesicht und den geröteten Wangen. Es zeigt die Auswirkungen einer Gesellschaft, die so tut, als wäre Übergewicht moralisch verwerflich.
Der traurige und verlorene Blick des Mannes auf dem Spielplatz zeigt, dass Trauer durch Einsamkeit verschärft wird und sich manchmal niemand findet, der bereit ist, einen zu fragen, wer man ist und wie es einem geht.
Viele weitere Beispiele ließen sich hier ergänzen: So zeigen die Bilder von hungernden und frierenden Menschen in Moria und Kara Tepe nicht nur, dass in anderen Teilen der Welt das Leben gefährlich ist, sondern auch, dass die europäische Hilfsbereitschaft enge Grenzen hat.
„Was wisst ihr denn schon davon?“ Das hätte auch Jesus sagen können. Denn auch ihm begegnen viele hämische Kommentare in seinen letzten Lebensstunden. Weil er nicht so ist, wie die Menschen ihn haben wollen, weil er nicht tut, was sie sich wünschen und sich gegen seine Verurteilung nicht wehrt, wird aus Bewunderung Verachtung, aus Ehrfurcht Spott. Zu ihm, der ohnmächtig am Kreuz hängt, sagen die Menschen aus dem Volk, die Soldaten, ja selbst einer, der mit ihm gekreuzigt wurde, voller Hohn: Wenn du bist, wer du zu sein behauptest, dann hilf dir selber.
„Was wisst ihr denn schon davon?“, mag Jesus denken. Doch laut sagt er: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Eine Hoffnungsbotschaft für all jene, die aus Unwissenheit oder Unüberlegtheit handeln und reden. Eine Hoffnungsbotschaft für alle, die sich über das Ausmaß ihrer Taten nicht bewusst sind. Hoffnung und Mahnung, denn das zeigen die Worte ebenfalls: Auch, wer nicht weiß, was er tut, macht sich schuldig und ist angewiesen auf Vergebung.
Die meisten Menschen in der Geschichte der Kreuzigung scheinen kein klares Bild von der Situation zu haben und schließen sich dem allgemeinen Urteil über Jesus an. Doch einer denkt und handelt anders.
Er, der ebenfalls mit Schmerzen und mit dem Tod ringt, nimmt Partei für Jesus und sagt: „Dieser Mensch hat nichts Unrechtes getan. Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst.“
Eine Stimme ist das, nur eine. Eine einzige, die ganz anders klingt. Man könnte denken, dass sie im Geschrei der anderen nicht wahrgenommen wird. Man könnte denken, dass sie angesichts der Größe der physischen und seelischen Schmerzen keine Auswirkungen hat. Doch das stimmt nicht. Jesus hört und spürt, was der andere sagt, und es macht für ihn einen Unterschied. Jesus wendet sich dem Menschen zu und verspricht ihm, dass auch für ihn auf Karfreitag Ostern folgen wird: „Wahrlich ich sage, dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“
Die Geschichte von Karfreitag ist eine von denen, die zeigt, was Menschen einander antun können. Doch sie zeigt auch, wie wir einander beistehen können. Eine einzige Stimme bewirkt schon viel. Je mehr es werden, desto besser.
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