Selber schuld? (Hiob 19, 19-27)

Selber schuld? (Hiob 19, 19-27)

Selber schuld? (Hiob 19, 19-27)

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Selber schuld? (Hiob 19, 19-27)

Liebe Gemeinde,

im Sommer 2010 saß ich mit einem Freund auf dem Sofa und sah die Tagesschau, als wir von dem tragischen Unglück erfuhren, das sich auf der Love Parade ereignet hatte. 19 Menschen, zum Teil jünger als wir, waren verstorben. Erstickt und niedergetrampelt in der Massenpanik. Während mich das Entsetzen sprachlos machte, sagte mein Freund nach einer Weile in einem leicht abschätzigen Ton: „Hm. Ich würde aber auch nie auf die Love Parade gehen.“ Entgeistert sah ich ihn an. Was wollte er denn damit sagen? Dass man mit dem eigenen Tod rechnen muss, wenn man auf eine solche Massenveranstaltung geht? Dass man das als vernünftiger Mensch halt nicht tut? Dass die Menschen, die gestorben waren, irgendwie selbst Schuld hatten? Hätten ja auch zuhause bleiben können?

Ein paar Jahre später saß ich im Café mit einem neuen Bekannten, interessanterweise auch ein Mann. Wir redeten und redeten, über Gott und die Welt, über Schönes und Trauriges. Und irgendwie kam ich dazu, von dem zu erzählen, was eine Freundin Jahre zuvor in ihrem Auslandsjahr in den USA erlebt hatte. Ein Junge aus ihrer Klasse war gestorben. Er hatte Zuhause im Beisein seiner Freunde die Waffe seiner Eltern gefunden, sie aus Spaß an den eigenen Kopf gehalten, hatte abgedrückt und war gestorben. 

„Wie alt war der Junge?“ fragte mein Gegenüber. „16“ sagte ich. „Also, naja,“ erwiderte er, „mit 16, da hätte er es aber wirklich besser wissen müssen.“ Wieder verstörte mich die Reaktion zutiefst. Natürlich hatte der Junge es besser gewusst. Aber wenn man als Teenager mit seinen Freunden zusammen ist, dann denkt man nicht immer nach. Dann blödelt man schon mal rum. Dann kann es leicht passieren, dass man auch einer Laune heraus völligen Unsinn macht. Und wenn man dabei eine geladene Waffe auf sich selbst richtet und stirbt, dann ist das ein großes Unglück. Von eigener Schuld zu sprechen, wäre da ziemlich zynisch. 

Ich muss natürlich einräumen: Beide Männer haben das auch nicht explizit getan. Niemand sagte: Selber schuld. Aber ich meinte, da etwas in diese Richtung herauszuhören. Und trotz aller Empörung konnte und kann ich das auch verstehen. Denn ich weiß, wie verführerisch dieser Gedanke sein kann. „Irgendwie ist er auch selber schuld.“ So zu denken kann der eigenen Psyche gut tun. Denn dieser Satz macht die Welt und das Schicksal erklärbar und schützt und entlastet einen selbst. Ich muss dann keine Angst haben, dass mir das Gleiche widerfahren könne. Denn ich bin ja ganz anders - ich tu so etwas ja nicht. Ich muss kein schlechtes Gewissen haben, weil ich nicht helfen konnte oder wollte. Es hätte ja eh nichts gebracht. Wenn mir klar ist, wer Schuld hat, dann muss ich mich nicht dem Gedanken stellen, dass das Leben widersprüchlich und manches mit dem eigenen Glauben kaum oder nicht vereinbar ist. 

Selber schuld. Diese Haltung vertreten die Freunde Hiobs in der Bibel. Nachdem Hiobs Leben in sich zusammengebrochen ist, er sein Zuhause, seine Kinder und seine Gesundheit verloren hat, lassen sie ihn nicht im Stich, sondern kommen zu ihm. Das muss man ihnen zu Gute halten. Sie schweigen mit Hiob. Doch als dieser anfängt, sein Schicksal zu beklagen, legen sie los: 

„Gott bestraft Menschen, die Schuld auf sich geladen haben“, sagt Elifas. 

„Deine Kinder sind gestorben, weil sie gesündigt haben. Du hast noch eine Chance: Wenn du wieder rein und fromm wirst, dann wird Gott wir wieder helfen“, sagt Bildat.

„Hör auf, Unrechts zu tun, dann wird es dir wieder besser gehen“, sagt Zofar.

Alle sind sich einig: Das eigene Tun hat großen Einfluss auf das, was uns passiert. Wenn es uns gut geht, haben wir Gutes getan. Wenn es uns schlecht geht, dann sind wir dafür auch verantwortlich. Selber schuld. Mach es anders und dann wird Gott dein Schicksal zum Guten führen.

Hiob jedoch sieht die Welt anders. Er kann die Ursache für das, was ihm passiert ist, nicht in seinem Verhalten sehen. Und so fühlt er sich neben allem, was er zu durchleiden hat, auch noch fälschlich beschuldigt. Er ruft: 

„Die engsten Freunde zeigen nichts als Abscheu. Ich liebte sie, doch sie befehden mich. Nur Haut und Knochen sind an mir zu sehen und mein Gesicht gleicht einem Totenkopf. Ihr seid doch meine Freunde! Habt Erbarmen! Was mich zu Boden schlug, war Gottes Hand! Warum verfolgt ihr mich so hart wie er? Habt ihr mich denn noch nicht genug gequält? Ich wünschte, jemand schriebe alles auf, dass meine Worte festgehalten würden, mit einem Meißel in den Fels gehauen, mit Blei geschwärzt, damit sie ewig bleiben!

Doch nein, ich weiß, dass Gott, mein Anwalt, lebt! Er spricht das letzte Wort hier auf der Erde. Jetzt, wo die Haut in Fetzen an mir hängt und ich kein Fleisch mehr auf den Knochen habe, jetzt möchte ich ihn sehn mit meinen Augen, ihn selber will ich sehen, keinen Fremden! Mein Herz vergeht in mir vor lauter Sehnsucht! Ihr überlegt, wie ihr mich quälen könnt und in mir selbst den Grund des Übels findet. Doch seht euch vor, dass euch das Schwert nicht trifft; denn solche Schuld verdient die Todesstrafe. Vergesst es nicht, dass Gott der Richter ist.“ (Hiob 19,19-27)

Ein spannendes Bild von Gott hat Hiob. Er schimpft mit ihm, dass er Hiob so viel zu gemutet und sein Leiden nicht verhindert hat. Er ist wütend auf Gott, aber er vertraut ihm. Er ist sich sicher, dass Gott trotz allem auf seiner Seite ist und ihn vor den Anklagen der Freunde in Schutz nehmen wird. Er wird als Hiobs Anwalt auftreten und zugleich als Richter über die Freunde. 

Und tatsächlich: 

Schließlich mischt sich Gott in das Geschehen ein und weist die Freunde in ihre Schranken. Am Ende ergreift Gott Partei für den ihn anklagenden Hiob und gegen dessen Freunde: „Ihr habt nicht recht geredet wie mein Knecht Hiob.“ (42,7.8) Ihr habt gedacht, in meinem Namen sprechen zu können und seid gescheitert.

Warum Hiob so Schweres erleben musste, diese Frage wird nicht letztgültig geklärt. Aber Gott spricht ihn von den Anschuldigungen der Freunde frei. Selber schuld gilt hier nicht.

Für die Freunde ist diese Gottesbegegnung sicher eine Herausforderung. Ihre Vorstellung vom Handeln Gottes wird zerstört. Sie merken, dass sie Gott und die Welt doch nicht so gut verstehen wie sie dachten. Sie merken, dass sie mit Unsicherheiten und Unklarheiten leben müssen und nicht für Gott sprechen können. Sie merken, dass der Zusammenhang zwischen dem, was sie erleben, und dem, was sie tun, doch nicht so klar ist - und sie sich daher vor Schicksalsschlägen nicht so gut schützen können, wie sie dachten. 

Das zu begreifen, ist erstmal hart. Aber es kann neue, stärkere menschliche Nähe ermöglichen. Denn wer aufhört, zu erklären, der kann anfangen zu trösten. Und der andere erfährt: Ich bin nicht allein, in dem, was mit mir passiert. Da ist noch jemand, der nicht versteht. Da ist jemand, der mit mir mitfühlt.

Ihre Pastorin Joppig

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