02/07/2024 0 Kommentare
Wer ist zuständig?
Wer ist zuständig?
# Gottesdienste/Spirituelle Angebote

Wer ist zuständig?
Viele mögen Fragen wie diese kennen:
Spielt meine Meinung für dich eigentlich irgendeine Rolle? Interessieren irgendjemanden meine Probleme? Wisst ihr eigentlich, dass es mich gibt? Ist irgendjemandem bewusst, was ich getan habe, damit das hier alles gelingt?
Unterschiedlich geartet sind diese Fragen und doch ist ihnen eines gemeinsam: Menschen, die so sprechen, fühlen sich übersehen. Sie teilen das unangenehme, demütigende Gefühl, das leider laut einer Umfrage ein Drittel der Bevölkerung empfindet: Nicht gebührend wahr genommen und gewertschätzt fühlen sie sich in der Arbeit und in der Familie, von der Politik oder der eigenen Kirchengemeinde.
So etwas schafft Ärger und Frust. Denn Wertschätzung ist wichtig; wo sie fehlt, schwinden auch die Zufriedenheit, die Motivation und das Selbstbewusstsein.
Was ist also dann zu tun? Da gibt es verschiedenen Wege: Man kann alles in sich hineinfressen, still vor sich hinleiden und hoffen, dass irgendwann irgendjemand Interesse nimmt. Oder man ärgert sich laut vor denen, die nichts mit der Sache zu tun haben und beklagt die große Ungerechtigkeit. Oder man tritt für sich ein und macht bei jenen, die Verantwortung tragen, auf sich und die eigenen Bedürfnisse aufmerksam.
Dass auch in Kirchengemeinden Mitglieder oder Mitarbeiter übersehen werden können, das mögen einige von uns aus Erfahrung wissen. Ihnen und den anderen sei erzählt, dass dieses Phänomen tatsächlich schon in der Urgemeinde vorkam und in der Bibel erwähnt wird. Nämlich im heutigen Predigttext in der Apostelgeschichte.
Dort heißt es:
„In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.
Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia. Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf. Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.“ (Apostelgeschichte 6,1-7)
„Immer werden die Frauen übersehen.“ Dieser Vorwurf trifft die Gemeinde hart, denn durch dieses Versäumnis werden die Damen, um die es geht, in eine lebensgefährliche Lage gebracht bzw. es wird versäumt, sie daraus zu befreien. Denn bei den Damen handelte es sich um Frauen, die in der christlichen Gemeinde zwar eine geistige Heimat gefunden hatten, jedoch mit dem Tod ihres Ehemannes auch ihren Versorger verloren hatten. Ihre Lage war also prekär. Die einen hatte ihre Familie hinter sich gelassen, als sie nach Jerusalem gezogen waren. Andere hatten zwar Verwandte vor Ort, konnten jedoch nicht auf sie zählen. Da sie selbst nichts verdienen konnten, galten sie in der Familie oft als ungern gesehene weitere Mitesserinnen. Wenig anderes blieb den Damen daher übrig, als zusammen mit den anderen Witwen, die aus Jerusalem und dessen Umland stammten, in der christlichen Gemeinde um Versorgung zu bitten. Doch im Gegensatz zu ihren Schicksalsgenossinnen bekamen die griechischen Frauen anscheinend nicht, was sie brauchten. Sie wurden „übersehen“ heißt es und die Verbform, die hier im Griechischen Urtext verwendet wird, lässt darauf schließen, dass es sich bei der Nichtbeachtung nicht um ein einmaliges Erlebnis handelte, sondern zur Gewohnheit geworden war – Ausgrenzung und Diskriminierung mitten in der Urgemeinde, die wenige Kapitel früher in der Apostelgeschichte als so vorbildlich dargestellt wurde.
So darf es nicht weitergehen - fanden die griechischen Mitglieder in der Gemeinde und fingen an, zu murren, heißt es. Ich frage mich: Handelte es sich dabei wohl um eine direkte Beschwerde bei den Aposteln? Oder war es ein Schimpfen am Rande des Gottesdienstes, eine Empörung, die immer weitere Kreise zog, bis sie endlich bei den Verantwortlichen ankam? Im Sinne von: „Du, ich habe gehört, die Griechen sind ziemlich sauer auf euch, weil deren Frauen angeblich nichts vom Essen abgekommen. Wär glaube ich ganz gut, wenn du sie mal ansprichst.“
Wie genau die Kommunikation vonstattenging bleibt unklar, die Reaktion der Apostel jedoch ist gut und lösungsorientiert. Ein Gespräch findet statt, in dem die Notwendigkeit der Versorgung aller Damen nicht bestritten wird, jedoch zugleich klar gestellt wird: Uns darum zu kümmern, dafür haben wir Apostel eigentlich gar keine Zeit. Wenn wir uns um die Versorgung aller Damen kümmern, dann bleibt keine Zeit mehr für Gottesdienst und Evangeliumsverkündigung. Und das können wir nicht verantworten, das sind doch Elemente, die uns ganz wesentlich ausmachen.
Man überlegte, was zu tun war und kam zu dem Schluss, dass es Leute brauchte, deren Schwerpunkt in der praktischen Hilfe und Organisation lag und so kam es quasi zur Geburtsstunde der Diakonie. Sieben Männer wurden ausgesucht, die sich diesen Aufgaben widmen sollten. Interessanterweise alles solche mit griechischen Namen. War das Zufall oder traute man einander nicht so ganz und sah die griechischen Damen besser von den Männern der gleichen Nationalität versorgt?
So oder so - eine Lösung war gefunden, wie beides gewährleistet werden konnte: die Versorgung und die Verkündigung. Und das war gut - denn beides gehört schließlich zusammen: Mit schmerzendem Magen und schwindligem Kopf ist man nur begrenzt für religiöse Fragen interessiert. Gleichzeitig ist tatkräftige Hilfe am Nächsten zentraler Inhalt des christlichen Glaubens. Das soll nicht nur gepredigt, sondern auch gelebt werden.
Sieben Menschen wurde Verantwortung übertragen und Zuständigkeiten wurden geklärt. Das hatte viele Vorteile, weil nun jeder sich auf die Aufgabe konzentrieren konnte, die ihm anvertraut war.
Doch zugleich birgt die Teilung von Zuständigkeiten auch Gefahren. Denn wenn die Sache schief läuft, kann es dazu kommen, dass man sich so sehr auf seine Dinge konzentriert, dass man gar nicht mehr weiß, was die anderen eigentlich machen und den Überblick über das große Ganze verliert. Oder sich eben auch gar nicht erst dafür interessiert. Diesen Eindruck hatte anscheinend ein junger Flüchtling, der in einem Interview gefragt wurde, was für ihn „typisch deutsch“ sei. Denn seine Antwort auf die Frage lautete: „‚Typisch deutsch‘ ist für mich der Satz ‚Dafür bin ich nicht zuständig.“
Immer wieder musste er die Erfahrung machen, mit seinem Anliegen nicht am richtigen Ort zu sein und sich neue Unterstützung suchen zu müssen. Und nicht immer wusste er, wo er die finden sollte. Denn wenn Zuständigkeiten klar abgegrenzt sind und man zugleich bestimmte Bereiche vergisst, dann werden Menschen und ihre Anliegen übersehen - so wie die griechischen Witwen.
Spannend finde ich: Dass ich solche Gefahren sehe, liegt wahrscheinlich an meinem „typisch deutschen“ Erfahrungshintergrund. Denn im Verlaufe der biblischen Erzählung wird deutlich, dass die Aufgabenverteilung zwar sinnvoll war, aber nicht so streng gehandhabt wurde, wie man aus deutscher Sicht denken würde. Stephanus und Philippus etwa, zwei der Männer, die mit der Versorgung der Frauen beauftragt worden waren, treten später auch als Heiler und Prediger auf. Ohne, dass sich irgendjemand über Kompetenzüberschreitungen aufregt. Anscheinend ist allen klar, dass es sich bei der Aufgabenverteilung eher um eine Schwerpunktsetzung handelte. Der eine konzentriert sich eher auf dieses, der andere eher auf jenes. Und so ist zu hoffen, dass auch die Apostel mal ab und an zu den Tellern griffen, um den Witwen Essen aufzutischen.
Verkündigen und Versorgen, Predigen und Helfen, Reden und Tun – das alles gehört zusammen. Für uns heute sollte das bedeuten, die verschiedenen Arbeitsbereiche innerhalb der Kirche alle wertzuschätzen und ihnen ihren Raum zu geben. Gleichzeitig halte ich es für wichtig, den Zusammenhang zwischen diakonischen Einrichtungen und der Kirche zu wahren und auch gegenüber der Öffentlichkeit darzulegen. Kirche sind nicht nur die Orte, in denen über den Glauben gesprochen wird. Kirche sind auch die Kindergärten und die Krankenhäuser, die Pflegeheime und die Obdachlosenhilfe. Wir sollten tun, was wir sagen. Aber eben auch sagen, was wir tun.
Das gilt für die Kirche als Gesamtheit, für die Kirchengemeinde und für die einzelnen Christen.
Pastorin Carolin Joppig
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