Was ist Sünde?

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Was ist Sünde?

Neulich kam eine Frau in die offene Kirche und wollte wissen, was Sünde ist. Pastor Latzel von der St. Martini-Gemeinde hatte ja gesagt, dass Homosexualität eine Sünde sei und ein ebenso todeswürdiges Verbrechen wie Ehebruch. So stehe es in der Bibel. Da hat die Frau gedacht: Das schaue ich jetzt selber nach. Sie hat ein Wortverzeichnis genommen und unter „Sünde“ nachgeschlagen. Sie hat mit ihrer Suche im Alten Testament angefangen. „Aber“, sagt sie, „da steht ja gar nicht, was Sünde ist. Immer nur dass Gott sie bestraft. Oder vergibt.“

Ja: welche Taten genau Sünde sind, lässt sich kaum sagen. Im Alten Testament gibt es zwar Gebote – mehr als zehn! Zum Beispiel: nicht zu Morden, die Ehe nicht zu brechen, den Sabbat zu halten (2. Mose 20). Und auch im Neuen Testament werden einige Dinge konkret genannt. Im Brief an die Gemeinde in Rom macht Paulus auf das ungerechte Handeln der Menschen aufmerksam. Das reicht vom Götzendienst, der das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf in sein Gegenteil verkehrt (Römer 1,23) über bestimmte sexuelle Praktiken (26-27) bis zu allgemeiner Bosheit, Habsucht, Machtgier, Täuschung und Verschlagenheit (28-31). Der Katalog endet übrigens mit der Feststellung, dass man darin, worin man andere verurteilt, doch eigentlich sich selbst verurteilt. „Denn du tust doch genau dasselbe!“ (Römer 2,1).

Die Liste des Paulus beinhaltet Beispiele. So etwas, aber auch vieles andere kann eine Sünde sein. An anderen Stellen der Bibel finden wir andere Kataloge. Für die Frage, was denn nun genau Sünde ist, hilft uns das nicht weiter, denn zu vielen Fällen gibt es auch Gegenbeispiele. Das Töten von Menschen ist eine Sünde (5. Mose 5,17), aber Menschen zu verschonen, über die Gott im Zuge der Eroberung des Landes den Bann gesprochen hat, dass sie sterben müssen, kann auch eine Sünde sein (4. Mose 21,3; Josua 6,18). Lügen ist eine Sünde (5. Mose  5,20), aber auf der Lüge des Jakob, der sich für seinen Bruder Esau ausgibt, liegt der Segen (1. Mose 27). Zinsnehmen ist ausdrücklich verboten (2. Mose 22,24), aber auf einen kleinen Bonus wird auch der Kirchenvorstand der frommen Martini-Gemeinde sicherlich nicht verzichten, denn schließlich sagt Paulus, dass Christus des Gesetzes Ende und uns alles erlaubt ist (Römer 10, 4; 1. Korinther 6,12). Und in der Geschichte, in der Jesus einen gelähmten Menschen aufrichtet (Markus 2,1-12), wird erst gar nicht geklärt, was denn das für eine Sünde war, die der Mensch auf der Matte mit seiner Lähmung bezahlen musste. Behinderungen oder Erkrankungen waren nach antikem Verständnis eine Folge begangener Fehltritte, vielleicht sogar die der Eltern und Großeltern (Ezechiel 18,3). Nur welcher? „Was habe ich bloß falsch gemacht“, mag sich der Mensch auf der Matte gedacht haben.

Zwar werden in der Bibel viele verschiedene Verhaltensweisen als konkrete Tatsünde bezeichnet. Aber dahinter steht doch die eine große Sünde, die „Sündenmacht“, die eine globale Dimension hat (Römer 5,12-21; 7,7-13). Und diese eine Grundsünde äußert sich dann je und je in konkreten Fehlverhalten. Unter den Folgen dieses Fehlverhaltens leiden die anderen Menschen, die Tiere, die Natur (Römer 8,22) – oder eben auch man selbst, indem man krank wird (Römer 1,27) oder ohne Segen bleibt. 

Denn was man tut, hat Folgen. Dass sich böses Tun böse auswirkt, wird in der Bibel als ein natürlicher Zusammenhang verstanden. Die Tatfolgen sind nicht als göttliche Strafen zu verstehen, sondern ergeben sich ganz von selbst aus dem, was man angerichtet hat. Es kann zwar vorübergehend (Jesaja 54, 7) sein, dass das Unrecht triumphiert und die Gewalttäter in Frieden leben. Aber über allem steht doch Gott, der am Ende dafür sorgt, dass alles seinen gerechten Ausgleich findet. „Gott gibt allen zurück, wie es ihrer Lebenspraxis entspricht“, schreibt Paulus. „Ewiges Leben denen, die (…) daran festhalten, das Gute zu tun (…). Leidenschaftlicher Zorn richtet sich aber gegen die, die aus reinem Eigennutz die Wahrheit nicht gelten lassen und dem Unrecht gehorchen. Schrecken und Angst wird alle Menschen erfassen, die in ihrem Leben dem Bösen Gestalt geben. (Römer 2,6-8). Gott ist der Garant, dass dieser Zusammenhang von Tun und Ergehen in Kraft gesetzt wird. Und wenn das in dieser Welt nicht möglich ist, dann in der anderen.

Aber was ist die Grundsünde? Sie haben es längst erraten: Es ist eine gestörte Beziehung zu Gott. Vorgebildet ist das in der Geschichte von Adam und Eva. Ihnen war es von Gott ausdrücklich verboten, von dem Baum zu essen (Gen 2,16f). Sie haben es dennoch getan. Und dabei ist die entscheidende Frage nicht, wer schuld ist: die Schlange oder Eva oder Adam, oder wie sehr sie sich gegenseitig geschadet haben und unter den notwendigen Folgen ihrer Tat leiden müssen. Der entscheidende Punkt ist, dass sie sich willentlich und bewusst von Gott getrennt haben. Und von alleine finden sie nicht mehr zu ihm zurück.

Wir können an dieser Geschichte auch ablesen, dass die Sünde sehr schön und attraktiv und nützlich ist. Für Adam und Eva bringt sie die Erkenntnis von Gut und Böse. Und auch für vieles, was wir heute tun, gibt es gute Begründungen. Wir sagen: „Es geht nicht anders“, „das muss so sein“, „es ist vernünftig“, „ich will es so“… Aber wir setzen uns damit dennoch über das hinweg, was uns Gott als sein Gebot gegeben hat und was wir auch in unserem Gewissen erkennen (Römer 1,19).

Die Sünde ist schön und vernünftig, und sie ist sehr tief in uns. „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“, fasst Paulus das menschliche Drama zusammen (Römer 7,19). Eher unerheblich ist, was es im Einzelnen war, was hätte gut sein sollen aber doch schlecht wurde. Zumal sich das ja im konkreten Fall oft gar nicht sagen lässt: Was ist gut? Was ist böse? Wir erkennen nur wieder und wieder, wie sehr wir unter einer Macht stehen, die uns vom eigentlichen Leben, von unserem Ursprung und unserem Ziel trennt. Einer Macht, die uns von Gott trennt. „Ich elender Mensch!“, klagt Paulus. „Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes?“ Aber dann bricht der Jubel in ihm los: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ (Römer 7,24-25) Das ist der gleiche Jubel, den die Menschen anstimmen, als einer, den sie bislang nur hilfsbedürftig kannten, jetzt aufsteht - aufersteht - und losgeht (Markus 2,12).

Gott beharrt auf einer gerechten Ordnung. Aber Gott ist doch vor allem der, der das Leben ermöglicht, und das bringt uns zum Jubeln, das ist unsere Freude! Dafür sind auch die Gebote da: dass wir leben können (Markus 2,28). Und dafür ist der Messias Jesus auf die Welt gekommen (Johannes 3,16), dafür hat er gelitten, hat die Folgen unseres Tuns auf sich genommen, ist gestorben und auferweckt worden: dass die Macht der Sünde und des Todes überwunden werden. 

Im Vertrauen auf Christus ist Freiheit möglich. In der Welt bleibt zwar die Sünde, und deshalb bleiben auch Unrecht und Lieblosigkeit wirksam. Aber wer zu Jesus Christus geht - oder sich dahin tragen lässt - und dafür auch ein paar nebensächliche Hindernisse wie ein Hausdach überwindet, wird das Leben erhalten. Weil Gott so gnädig ist und sich zu uns herab beugt, können wir daran arbeiten, Gerechtigkeit und Liebe in unserem Leben Raum zu geben und das Unrecht und die Lieblosigkeit aus unserem Leben herauszuschaffen (Römer 6,12-14). 

Was die Sünde im Einzelnen sein mag, wissen wir manchmal gar nicht, aber darauf kommt es auch nicht an. Entscheidend ist, dass die Vergebung der Sünden, die Jesus Christus für uns erwirkt hat und uns zuspricht, für uns die Ermutigung bedeutet, die Kette des Bösen zu durchbrechen, aufrecht zu gehen und tapfer das zu tun, was wir tun sollen.

Und ist denn Homosexualität nun eine Sünde? Eine Antwort „ohne Hörner und Zähne“: Nein.

Von gleichberechtigter und gewaltfreier Sexualität, wie sie bei uns heute gelebt wird, ist in der Bibel nicht die Rede. Geschlechtsverkehr wurde in der Antike immer als Machtverhältnis zwischen „oben“ und „unten“ verstanden. Oftmals war die Sexualität auch mit Gewalt verbunden. Und es ist bemerkenswert, dass Paulus in der Abwehr der Homosexualität nicht, wie er sonst immer tut, auf die göttliche Offenbarung Bezug nimmt, sondern auf eine angebliche natürliche Ordnung. Deshalb trifft die Verurteilung von Homosexualität, die wir in der Bibel lesen (und die dort übrigens ein ausgesprochenes Randthema ist) nicht die heutigen Beziehungen. Wenn Sie mögen, können Sie das selber im Brief an die Gemeinde in Rom nachlesen und selber urteilen.

Wir stehen alle unter der Macht der Sünde, das ist wahr, und die Folgen der Sünde sind schlimm. Ich sehe viele Leiden in der Welt: die Armut, den Hunger, den Krieg und die Gewalt, als Folge einer zerrütteten Beziehung zu Gott. Aber liebevollen, verantwortlichen, gewaltfreien Sex, gleich, welches Geschlecht die Beteiligten haben, würde ich eher als Gegenmacht zur Sünde beschreiben. Als ein Geschenk Gottes für das Leben. Als etwas, das uns verbindet. Als Kraft der Auferstehung, an der wir durch Jesus Christus teilhaben.

Pastor Klaus Kramer

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